Mit den Begriffen geht es los: „Wir sprechen von Gästen"

Nachricht 14. März 2022
Berichtet von seinen Einsätzen auf der der SeaWatch 3 - Lorenz Schramm

Engagement für Menschen auf der Flucht - das Thema des diesjährigen religionspädagogischen Tages für Lehrende und Referendare an Berufsbildenden Schulen im Sprengel Osnabrück hat Anfang März eine grausame Erweiterung erfahren. „Wir kommen an dem Krieg in der Ukraine nicht vorbei. Er löst neue Flüchtlingsströme innerhalb Europas aus. Das Gefühl von Machtlosigkeit lässt Menschen zusammenrücken und Zuflucht im Gebet suchen. Und gleichzeitig erwacht überall eine große Hilfsbereitschaft und entschlossener Protest gegen diesen Angriffskrieg“, benannte Regionalbischof Selter die parallelen Gefühle angesichts des Krieges Putins gegen die Ukraine.

Für das sozialdiakonische Engagement der Kirchen für Menschen auf der Flucht standen die Arbeit der Organisation Sea-Watch im Mittelmeer einerseits und örtliche Initiativen der Flüchtlingshilfe andererseits. Sie wurden von Vertreterinnen und Vertretern in Workshops vorgestellt. Im (digitalen) Plenum startete Lorenz Schramm mit persönlichen Erfahrungen auf der Sea Watch 3, seiner „Schiffsliebe“.

Lorenz Schramm ist Anfang 30, Gesundheits- und Krankenpfleger im Alltag und seit 2017 auf verschiedenen Einsätzen der Sea Watch 3 und 4 mit an Bord. Er fängt mit den Begriffen an. „Wir sprechen auf unseren Rettungsschiffen nicht von Geflüchteten, sondern von Gästen. Wir versuchen, ihnen damit Würde zu geben und jede und jeden als Individuum zu sehen“, betont er. Seine Beschreibungen sind sachlich und deshalb sehr dicht. „Unsere Idee hinter unserem Tun ist, dass wir das nicht mehr tun wollen.“ Weil in den letzten Jahren die Rettungsschiffe nach einer Rettung immer erst mal über Wochen festgesetzt wurden - „super frustrierend für uns, dass wir nur im Hafen warten können“ – sei aus dem eigentlichen Ziel, Menschen zu retten, immer mehr eine Arbeit für mehr Aufmerksamkeit für das Sterben im Mittelmeer geworden, erklärt Schramm. Dabei beginne der Horror für die Menschen schon viel früher. Auf dem Weg durch die Sahara zähle niemand die Leichen. Und dann Libyen. „Libyen ist die Hölle und Libyen ist das zentrale Thema unserer Arbeit. Es gibt so viel Ignoranz der EU gegenüber diesen Menschenrechtsverletzungen in Libyen – dabei sind die alle bekannt, kann man einfach googeln. Aktiver Sklavenhandel, starker antischwarzer Rassismus, willkürliche Gefangenschaft und Folter. Absolute Rechtlosigkeit, Erpressung und erzwungene Prostitution“, zählt er auf. Und auch, wie riesig die Angst unter ihren Gästen ist, zurück nach Libyen geschickt zu werden. „Wir müssen bei Rettungsaktionen das Wort ‚Libyen‘ vermeiden. Das Wort löst sofort Panik aus“.

Es gibt eine Menge Rückfragen aus der Runde: Über das Leben an Bord, Verständigung, Konflikte, über seine eigene Motivation, ein besonders prägnantes Erlebnis und was man den Schülerinnen und Schülern weitergeben könne.

Wasser und eine Decke sind das erste, was die Menschen an Bord bekommen, und sie werden registriert. Dann gehe es darum, Vertrauen aufzubauen, eine Situation zu schaffen, in der sich die Menschen im besten Fall ein wenig „erholen“ können. Die Verständigung laufe mit Händen und Füßen ganz gut, „man wird schnell sehr erfinderisch damit“, sagt Lorenz Schramm. Wenn es Konflikte gebe, dann stecke häufig Angst dahinter. „Ich versuche dann, die Angst abzupuffern, den Konflikt auf mich zu nehmen, den Leuten ihre Würde zu bewahren.“

Die Grundbedürfnisse zu befriedigen - also Wärme, Essen, Hygiene - das alles erfordere auf einem engen Schiff mit sehr vielen Gästen sehr viel Geduld von allen und es bleibe eine permanente Herausforderung für die Crew. „Wir versuchen, genau zu kommunizieren was gerade passiert. Je verlässlicher unsere Kommunikation ist, desto besser“, weiß Lorenz aus Erfahrung. Und er sagt auch: „Ich bin überrascht, wie viel Vertrauen wir von Menschen kriegen, die eigentlich keinen Grund mehr haben, irgendjemandem zu vertrauen.“

Wo erholt er sich und wie verarbeitet er diese anstrengenden, teilweise frustrierenden Einsätze? „Dafür ist mein Umfeld in Mitteleuropa wichtig. Und es gibt so viele unterstützende Aktionsformen in Mitteleuropa, die es ermöglichen, dass ich an die Küsten Europas fahren kann. Jeder kann an seinem Ort etwas beitragen. Und auf dem Schiff haben wir vor allem Hoffnung.“

An Jugendliche weitergeben könne man zum Beispiel dies: „Awareness schaffen. Das Bewusstsein dafür, wo und wie Diskriminierung geschieht. Ganz alltäglich. Auch ich habe einen unbewussten Rassisten in mir, dessen ich mir immer wieder bewusst werden muss.“

Seine Motivation: „Ich mag einfach Ungerechtigkeit nicht. Wie kann das sein, dass in einer Welt Menschen zum Mond fliegen und gleichzeitig gibt es diese Ungerechtigkeit?!“

Ein „besonderes“ Erlebnis war für Lorenz Schramm Weihnachten 2021. „Weil es überhaupt nicht um Weihnachten ging. Keiner hat ein einziges Mal „frohe Weihnachten“ gesagt. Aber wir haben an dem Tag ab dem frühen Morgen etwa 500 Leute aus Seenot retten können. Ich habe das Leben von rd. 500 Leuten zu Weihnachtgen ‚geschenkt‘ bekommen. Weihnachten 2021 war für mich episch.“

Mit dem Song „Europa“ von den Toten Hosen hatte Regionalbischof Selter auf den Vortrag von Lorenz Schramm eingestimmt ( https://www.youtube.com/watch?v=GiZ0hEB1Xzw .) Im Anschluss dankte er ihm herzlich. „Man merkte, dass das auch emotional etwas mit Ihnen macht, wenn Sie hier über Ihre Arbeit berichten. Und trotzdem bewahren Sie sich eine gewisse Leichtigkeit, ohne die man wahrscheinlich gar nicht handlungsfähig bleibt. Das war in jeder Hinsicht großartig, was Sie für uns an diesem Tag beigetragen haben. Vielen Dank!“

(Öffentlichkeitsarbeit Sprengel Osnabrück, Brigitte Neuhaus)